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Bundesverfassungsgericht 
- Pressestelle -
Pressemitteilung 
Nr. 43/98 vom 24. April 1998

 
 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Anordnung einer sofortigen Unterbringung in geschlossener psychiatrischer Einrichtung




Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren festgestellt, daß die gerichtlich angeordnete sofortige vorläufige Unterbringung eines Mannes in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung gegen dessen Grundrecht auf "Freiheit der Person" (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) verstieß. 


I.

Ein 1959 geborener Mann wurde im Mai 1996 von der ihn behandelnden Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in die HNO-Ambulanz einer Universitätsklinik überwiesen, die mehr als 150 km von seinem Wohnort entfernt liegt. Er hat die Vorstellung, man habe ihm 1964 "Wanzen" in beide Ohren eingepflanzt, die er entfernt wissen wollte. Aufgrund dessen wurde er am selben Tag in die geschlossene psychiatrische Abteilung eingewiesen. Das Amtsgericht (AG) beschloß die vorläufige Unterbringung des Mannes in einer geschlossenen Einrichtung bis längstens 24. Juni 1996 zur Durchführung einer Heilbehandlung und ordnete die sofortige Wirkung dieser Entscheidung an. Es bestünden dringende Gründe für die Annahme, daß mit einem Aufschub der Unterbringungsmaßnahme eine so erhebliche Gefahr für den Beschwerdeführer verbunden wäre, daß er sofort untergebracht werden müsse. 

Am 13. Juni 1996 wurde der Beschwerdeführer in eine psychiatrische Klinik in Wohnortnähe verlegt und am 24. Juni 1996 entlassen. 

Beschwerden des Untergebrachten gegen den amtsgerichtlichen Beschluß wiesen das Landgericht (LG) und das Oberlandesgericht (OLG) u.a. mit der Begründung zurück, der Beschwerdeführer erkenne krankheitsbedingt seine Behandlungsbedürftigkeit nicht. Die Behandlung könne daher ohne eine Unterbringung nicht durchgeführt werden. Sie sei zu seinem Wohl erforderlich, um drohende gewichtige Gesundheitsschäden abzuwenden.

Gegen diese Gerichtsentscheidungen erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. 


II.

Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat festgestellt, daß jedenfalls der die sofortige Unterbringung genehmigende Beschluß des AG sowie die Beschwerdeentscheidungen des LG und des OLG den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verletzen. 

  1. Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, daß sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf und eine Einschränkung stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen ist. Dies schließt zwar nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muß jedoch bei weniger gewichtigen Fällen eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben und somit auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die "Freiheit zur Krankheit" belassen bleiben. 

  2. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage richterlicher Entscheidungen. Es ist insoweit unverzichtbare Voraussetzung, daß solche Entscheidungen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. 

  3. Jedenfalls die sofortige Anordnung der Unterbringung hält einer Prüfung an diesen Maßstäben nicht stand. 

  4. Eine solche Maßnahme setzt voraus, daß dringende Gründe für die Annahme bestehen, daß mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr verbunden wäre. 

    Das AG hat eine solche Gefahr angenommen, ohne dies weiter zu begründen.

    Auch das LG hat seiner verfassungsrechtlichen Aufklärungs- und Begründungspflicht nicht genügt. Es hat sich nicht damit auseinandergesetzt, ob der Aufschub einer Unterbringungsmaßnahme bis zur endgültigen Entscheidung für den Beschwerdeführer eine Gefahr bedeutete. Eine solche Prüfung hätte aber schon deshalb nahegelegen, weil der Beschwerdeführer schon seit langer Zeit in der Vorstellung lebte, ihm seien "Wanzen" in die Ohren implantiert worden, und keine Anzeichen darauf hinwiesen, daß sich das Krankheitsbild unmittelbar vor dem Aufsuchen der HNO-Klinik verschlimmert hatte. Es hätte im übrigen Anlaß bestanden, zur Frage des Erfordernisses einer sofortigen Behandlungsbedürftigkeit die behandelnde Nervenfachärztin um eine - jedenfalls telefonische - vorläufige Äußerung zu bitten. Aus dem Umstand, daß diese Ärztin den Beschwerdeführer in eine mehr als 150 km entfernte HNO-Fachklinik überwiesen und von sich aus keine psychiatrische Krankenhausbehandlung vorgeschlagen hatte, mußte sich dem Gericht der Anlaß zu dieser weiteren Sachverhaltsaufklärung geradezu aufdrängen. 

    Im Ergebnis ist es deshalb nicht ausgeschlossen, daß AG und LG bei weiterer Sachaufklärung zu der Überzeugung gelangt wären, daß dringende Gründe für das Vorliegen einer keinen Aufschub duldenden Gefahr nicht festzustellen seien. 

    Beschluß vom 23. März 1998 - 2 BvR 2270/96 

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